Monika Rinck. Höllenfahrt & Entenstaat. Gedichte
Monika Rinck. Höllenfahrt & Entenstaat. Gedichte
Dir ist Schwimmen gegeben. Schwimmen ist dir gegeben.
DAS BUCH
Gegrüßet seiest du, angehaltene Natur. Der Müde bist du. Wie wird es dem Müden ergehen, wenn er mit seiner unsterblichen Seele, von rasenden Autos ruppig überholt, auf dem Standstreifen langsam in Richtung Unterwelt geht? Monika Rinck erkundet in ihrem Langgedicht „HÖLLENFAHRT“ automobile Todesfahrten und andere Unterweltreisen. In einer unaufhaltsamen Folge von Gedichten geht es durch markante Jenseitstopographien und entlang der genehmigten beschleunigten Straßenprojekte der Bundesregierung in eine neue Mitwelt, in der die Starre des Frosts von der Hitzestarre nicht mehr zu unterscheiden ist. „Die Gedichte inszenieren die Zeit – oder genauer die stillgestellte Zeit als Moment der Reflexion in und nach einer sich katastrophal entwickelnden Ära des sogenannten Fortschritts.“ (Klaus Schenk, TU-Dortmund) Fremde Stimmen als Begleiter! Wir lesen in unzugängliche Räume mitgegebene Zeilen, wie sie auf der Innenseite von Sarkophagen zu lesen waren, die viele verschiedene Aufgaben haben: Trost, Unterhaltung, Orientierungshilfe, Wegbeschreibung, Dietätik, Versicherung, Anrufung, Beharrlichkeit, Sorge, Tischordnung, Inventur. Indes erstarrt das stillgestellte Laub, die Enträumlichung durch digitale Dämonen geht voran, die Todeskulte der Gegenwart sind offenbar nicht aufzuhalten. Doch die Wünsche stehen weiterhin im Infinitiv. Neben der Höllenfahrt findet sich in dem geplanten Band auch die Oper: DER ENTENSTAAT, ein Reigen des Trostes durch zerbrechliche Sachen und die große Reparatur. Sowie eine Auflistung des Unverfügbaren, die Behandlung der Fragen, was es bedeutet, das Radio zu lieben, den freien Willen der anderen und den Wind.
STIMMEN ZU MONIKA RINCK
Erkenntnissattes, aufmerksamkeitsgeschärftes Bewegtsein ist, was die Texte von Monika Rinck hervorrufen.
— Beate Tröger, Der Freitag
Wie aber denkt man wagemutig? Indem man sich überfordert, sagt Monika Rinck.
— Tobias Lehmkuhl, Die ZEIT
Die Essays und Gedichte von Monika Rinck sind das originellste Denkabenteuer, das die deutschsprachige Literatur derzeit zu bieten hat.
— Daniel Graf, Die Republik
DIE AUTORIN
Monika Rinck lebt in Berlin und Köln. Seit 1998 veröffentlicht sie Gedichte, Essays und Übersetzungen. Im Frühjahr 2019 erschien das Lesebuch Champagner für die Pferde im S. Fischer Verlag und der Lyrikband Alle Türen bei kookbooks. Sie betreibt online das Begriffstudio, ein eigenwilliges sprachgeschichtliches Archiv der letzten 25 Jahre, und ist neben anderen Auszeichnungen Trägerin des Ernst-Jandl-Preises, des Kleist-Preises und des Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg. Im Oktober 2020 trat sie eine Stelle als Professorin am Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst in Wien an. Seit April 2023 unterrichtet sie als Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Im Juli 2024 hielt sie die Walter-Höllerer-Vorlesung an der Technischen Universität Berlin, im November 2024 die Zürcher Poetikvorlesungen und im Januar 2025 hat sie den DAAD Chair of Contemporary Poetics an der NYU inne. www.begriffsstudio.de
LESEPROBE
Ich grüße dich, Müder!
Denn der Müde bist du. Fast noch am Leben.
Knöcheltief im hellen Mehl auf Ebenen
wirst du stehen, lange warten, dich biegen.
Auf einem endlosen Parkdeck, ruhend wie der Verkehr.
Allein im sichelnden Wind. Kein anderer Teilnehmer
ist müder als du. Am Horizont steht die See, wie betoniert.
Ihr teilt eine Starre. Auch das Laub teilt sie mit dir.
Wie müde du bist, Müder. Deine Seele liegt tief
in der Höhle. Ein leiser Verein. Ich rüttele dich.
Sie steigt nicht in die Höhe, tritt nicht über die Stufen.
Ich hab sie leise bei ihrem geheimen Namen gerufen.
Doch kommt sie nicht wie gerufen. Sie kommt gar nicht.
O Müder, wie müde du bist. Wie kann ich dich erheitern?
Darf ich dir von den Amöben berichten? Bitte, Müder,
lass mich, lass mich dir von den Amöben berichten.
Wie sie kriechen, wie sie Kontinente ergeben, Gebärden.
Wie sie wirksam werden und waren, etwa in der Phylogenetik.
Die Stimmen hörst du, die in den Zeichen geborgen sind.
Sie sprechen mir dir, wie mit der Wand. Und auch die Wand
spricht mir dir, als seiest du ganz eng verwandt mit der Wand.
Das macht die Inschrift. Und du entzifferst mühsam: Am-ö-be.
Und aus den Fugen quillt indes ein leicht erhitztes Flüstern,
von tief, tief unten, aus dem breiten Strom der Unterwelt
kommt dieses Flüstern ans Ufer gekrochen, kochend,
dampfend, wie hingefallen und wieder aufgestanden.
Wort für Wort, Müder, o Müder, hörst du dies mit deinen Ohren.
Auf den Bericht der Amöbe folgt der Bericht der Meta-Amöbe,
der der wilden Fahrt in die Tiefe der Unterwelt voransteht,
bevor es entlang brennender Gärten unaufhaltsam hinabgeht.
Kann denn die Seele? Wie?
Kann denn die Seele diese leere Stelle für sich reklamieren?
Schau, wie das hohe Laub im dichten Nebel steht.
Und das Au – der Schmerzenslaut, der stumm durch alle Menschen
Monika Rinck, Höllenfahrt & Entenstaat. Gedichte, Reihe Lyrik Band 89, 104 Seiten, gestaltet von Andreas Töpfer, ISBN 978-3-948336-26-4